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Russlands atmende Grenzen

Marco Herack
Marco Herack
7 minuten gelesen

Inhaltsverzeichnis

Man fängt ja nicht mit ‚ich’ an und dennoch hätte ich nicht gedacht, dass ich mich im ersten Newsletter des Foreign Times-Podcasts mit Russland beschäftigen muss. Genau damit wollte ich mich künftig eher weniger beschäftigen. Aber Russland will weder mich noch uns loslassen. Es will uns allen auf ewig verbunden sein.

Meine innige Beziehung zu Russland

Als Kind absolvierte ich in meiner DDR-Schule regelmäßig russische Freundschaftsnachmittage. Man trank dann aus dem Samowar, las russische Märchen (vor) oder erklärte, wie wunderbar der große Bruder doch sei. Daraus könnte ich euch wunderbar herrliche Geschichten stricken, die völlig unverfänglich dem reinen Menschsein nachgehen und absolut gar keine Fragen an die Welt stellen. Die die Welt so nehmen, wie sie war. Ich würde also nicht erwähnen, dass so ein Samowar zur Standardausstattung vieler Völker gehört, sondern ihn als rein russisches Erlebnisprodukt beschreiben. Ganz so wie die DDR das tat.

Das russische Erlebnis konnte so klischeehaft sein, weil die Russen in der DDR verhasst waren. Man nannte sie Freunde, weil man sie Freunde nennen musste. Man lehrte ihre Propaganda, weil das Volk ihre Propaganda erlernen musste. Dabei blieb der Russe wie auch das allgegenwärtige Russland abstinent. Ein Geist.

Nach dem Fall des ‚Eisernen Vorhangs‘ hörten 1989 die Freundschaftsnachmittage auf. Man verlor sich aus den Augen. Russland, das war weit weg. Und ich, war auch irgendwie weit weg. Mit dem Umzug von Ostberlin nach Weinheim an der Bergstrasse begann ein neues Leben und das war anstrengend genug. Da hatte der Russe keinen Platz und Russland selbst war auch eher mit sich selbst beschäftigt. Putin wollte in Tschetschenien beispielsweise fremde Leute bis ins Scheißhaus verfolgen und ähnliche Eskapaden. Wir waren alle stark beschäftigt.

Die Rückkehr

Wiedergefunden haben wir uns erst in 2014. „Ach Russland“, seufzte seinerzeit die Ukraine zum ölverschmierten Wladimir und wandte sich der schönen Europa zu. Seitdem gibt es Rabatz. Die Krim wurde von Russland annektiert. In der Ostukraine toben sich von Russland gestützte Separatisten aus, die nicht selten mal russische Geheimdienstler, Urlauber oder Söldner sind. Sie befinden sich in einem tödlichen Krieg gegen die Ukraine. Das Asowsche Meer wird der Ukraine zwar zugesprochen, doch seine Kontrolle liegt bei Russland.

Ihr kennt das.

Zuerst hatte ich Fragen. Warum nennt man das plötzlich ‚Kalter Krieg‘? Warum erklärt mir keiner ausführlich, was da los ist und warum wir uns wie dazu verhalten? Wieso hat Frank Schirrmacher sofort Stalin im Kopf? Ich hatte nicht das Gefühl, dass die Fragen so verhandelt wurden, dass ‚ich‘, der ich mir Russland sehr lange ferngehalten hatte, nun verstehe, warum, wieso und weshalb das alles nun so ist.

Deswegen begab ich mich damals auf eine Reise und erkundete das neue Russland. Ich las, ich sprach und ich reiste hin. Lebte zeitweise in Moskau und sog die Stimmung in mich auf. Sie war ‚anti-europäisch‘.

Der Kauf einer SIM-Karte konnte für Ausländer zur Tortur werden. Man wurde einfach nicht bedient. Ich fand mich damit ab, dass wer Käse verbrennt (Gegensanktionen), dem Ausländer dann eben auch in möglichst herablassender Art und Weise keine SIM-Karte verkauft. Hintenraus wurde es dann besser, denn Moskau wurde im Vorfeld der Fußball-WM 2018 auf Ausländer getrimmt. In der Moskauer Metro wurden bspw. die kyrillischen Buchstaben vielerorts um Ortsnamen in lateinischer Schrift ergänzt und es gab Trainings für Jobs, die Kontakt mit Ausländern hatten. Alternativ wurden einfach Studenten hingesetzt, die Englisch konnten.

Wo die Stadt vorher Verachtung atmete, gab es plötzlich den Anschein einer Weltoffenheit.

Der Wandel

2014 ist etwas Grundsätzliches mit Russland passiert, das schon zuvor angelegt war und sich nun Bahn brach. Eine Entwicklung, von der man sich in Deutschland gerne einredet, dass man sie selbst herbeigeführt habe. Denn hätte man doch nur mehr mit Putin gesprochen. Noch mehr Konzessionen gegenüber Moskau gemacht, dann wäre doch alles anders verlaufen. Und freilich bestätigen das die Russen. Hätte man doch nur.. Aber das Gegenteil ist nun auch nicht mehr zu beweisen.

Zumal ich weiß, wie viele dieser Gespräche gelaufen sind. Ein Deutscher kam zum Reden und ein Russe beschimpfte ihn. Überhäufte ihn mit Anschuldigen und inszenierte eine Art Demütigung des Deutschen. Der ging dann wütend in sein Flugzeug, schimpfte vielleicht ‚intern‘ oder unter Drei und dann.. passierte nichts. Kurz drauf traf man sich wieder zum Gespräch und die Schleife ging von vorne los.

Fiona Hill schrieb in 2017: „As Russia’s president, Putin is… set on restoring, consolidating, and defending Russia’s position.„

Was im ‚Westen‘ erst seit 2014 so langsam begonnen wird zu begreifen, ist, dass der Waffengang eine normale Option für Russlands Präsidenten zum Erreichen seiner Ziele ist. Das heißt nicht, dass jedes Drohen mit Waffen dazu führt, dass Russland in den Krieg zieht. Aber Krieg und Waffengewalt sind jeweils eine von vielen Möglichkeiten:

  • Die Liste russischer Giftopfer hat seit 2006 an ‚Dynamik‘ gewonnen.
  • 2008 hat der Westen in Georgien lautstark weggeschaut.
  • Als Assad im April 2013 mit Chemiewaffen die in 2012 von US Präsident Obama definierte ‚rote Linie’ überschritt, passierte nichts.
  • 2014 stand die Ukraine in Sachen Annexion der Krim durch Russland und Krieg in der Ostukraine eher alleine da.
  • Seit 2014 hat Russland ‚Krieg‘ über die Wagner Gruppe kommerzialisiert. Geübt und getestet wird in der Ostukraine und in Syrien. Sudan, Libyen und Mali sind die prominentesten Tätigkeitsländer.
  • Seit September 2015 hat Russland einen Militäreinsatz in Syrien laufen und hat diesen Krieg zu Assads Gunsten gedreht.
  • Weitere gefrorene Konflikte in die Russland involviert ist: Transnistrien, Südossetien, Abchasien.

Man könnte nun noch etwas weiter machen und die Liste wäre beeindruckend. Wer das Ganze in einer ausführlichen Timeline nachlesen möchte, sollte einen Blick auf das Buch ‚Die Wahrheit ist der Feind’ von Golineh Atai werfen. Die Botschaft ist klar: Es gab seit 2008 sehr klare Anzeichen des Wandels und ein sehr explizites Verhalten seitens Russlands, dass sich in 2014 schöpfte und seitdem immer weiter ausgreift.

Realitätsverweigerung

Für die Foreign Times habe ich mit Gwendolyn Sasse einen Blick auf das Jahr mit Russland geworfen. Gemäß der Frage:Was will Putin? Eine klare Feststellung war: Wir haben seit 2014 keine Instrumente entwickelt, um Russland etwas entgegenzusetzen. Das ist ein politisches Versagen.

Was scheinbar völlig außerhalb der deutschen Vorstellungen liegt, ist, dass Putin seine militärischen Spielchen nur deswegen treibt, weil er etwas (vorher unbestimmtes) damit erreichen ‚kann‘. Es wäre dann auch egal, was erreicht wird, da jeder Erfolg bereits das Machtverhältnis zum Vorteil Russlands verschieben würde.

Für Fälle wie diesen braucht man Instrumente. Man muss Grenzen setzen, wenn Grenzen getestet werden. Die Realität an diesen Grenzen wird momentan jedoch von Russland vorgegeben. Das liegt auch daran, dass sich der Westen in einer Sache einig ist: Man wird die Ukraine nicht verteidigen, man wird Russland im Falle einer Invasion der Ukraine lediglich sanktionieren.

Der Aufbau der russischen Kräfte vor der Ukraine fand im Frühjahr 2021 statt. Kurz nach der Verrentung von Kanzlerin Angela Merkel intensivierte Putin den Aufmarsch und das vor Ort gelagerte Gerät. Der Zeitpunkt, aber auch die Tatsache eines SPD-Kanzlers war ideal für ihn. Deutschland wurde zum schwächsten Glied in der Nato-Kette.

Olaf Scholz bestätigte dann auch alle Befürchtungen. Erst sagte er gar nichts und überließ stattdessen seiner Partei den öffentlichen Diskurs, um anschließend seit heute nicht den Namen Nord Stream 2 als möglichen Sanktionshammer nennen. Auch dann nicht, wenn US-Präsident Joe Biden neben ihm steht und bekundet, dass es die Pipeline im Fall eines Angriffs auf die Ukraine nicht geben wird. Die Szene wirkte ebenso skurril wie Scholz seine Begründung, der nach er durch unklare Ansagen gen Russland eine strategische Ambiguität wahren wolle. Es könne ja alles noch viel schlimmer kommen als Putin nun glaube, dass es via Sanktionen kommen werde.

Angela Merkel hat in 2014 begonnen in Europa ein Sanktionsregime gegenüber Russland zu stricken, das bis heute gehalten hat. Scholz reagierte lediglich auf Druck von allen Seiten. Die Federführung liegt derweil in der Hand des US-Präsidenten und in Europa beim französischen Präsidenten Macron. Putins Spekulation, auf ein schwaches Deutschland, ist aufgegangen.

Vorwärts nimmer, Rückwärts immer

Mit großer Ernsthaftigkeit wird das russische Treiben in den USA beäugt. Auch wenn die Situation eine andere ist, denkt man in China wie in den USA sofort an Taiwan, wenn es um die Ukraine geht. Sollten die USA blinken, sehen chinesische Nationalisten bereits ihre Chance auf eine kriegerische Annexion Taiwans.

Auch wenn die USA es also nicht wollen, sind sie innerhalb der geopolitischen Logik verfangen. Jedes Zögern der USA würde ihre Position gegenüber China weiter schwächen. Man kommuniziert also nie nur mit Russland.

Würde man nichts tun, würden sich allein dadurch bereits die Grenzen des Möglichen verschieben. Die USA scheinen sich für eine Vorwärtsstrategie entschieden zu haben. Nebst der Kostenrechnung, via Sanktionen, versuchen sie die russischen Möglichkeiten dadurch zu beschränken, dass sie vermeintliches Tun bereits im Vorfeld der Öffentlichkeit zugänglich machen. Dadurch verändert sich die Kalkulation in Russland. Da dieses, wie oben geschrieben, den Takt vorgibt, kann das Ziel nur sein, zu verhindern, dass Russland weitere Möglichkeiten erlangt.

Für eine mediale Öffentlichkeit ist das kontraintuitiv, da der Kern der Strategie das Nicht-Eintreffen dessen ist, was man nach außen kommuniziert. „Der Biden lügt!“, schreit der Bürger. Auch an dieser Stelle hält sich Deutschland raus. „Man nehme die Sorgen der Verbündeten sehr ernst.“, ließ Olaf Scholz verkünden und sagt damit, ob gewollt oder nicht, dass er die Sorge so nicht teile.

Die deutsche Politik ist in dieser Angelegenheit ein Trauerspiel.

Den Blick für das Wesentliche verloren

Im Mittelpunkt der allseitigen Beobachtung steht der kriegerische Akt durch Russland gegenüber der Ukraine. Dass Russland nebenbei Soldaten in Belarus stationiert, wird kaum wahrgenommen. Trotz diverser Aufrufe hinzuschauen. Sanktionsforderungen gibt es nur für den Fall einer russischen Invasion in der Ukraine.

Gerade der mediale Blick ist hauptsächlich auf das gerichtet, was zu brennen scheint. Man fährt in die Ukraine und befragt die Leute, ob sie glauben, dass es einen Krieg geben werde. Lüstern wird jede Pressekonferenz vor dem Publikum ausgeweitet, auch weil man insgeheim hofft, Lavrov würde wieder einen Knaller raushauen. So stand nun auch ausgerechnet dies im Mittelpunkt des Interesses, als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock Moskau besuchte.

Wir könnten an dieser Stelle über das potemkinsche Prinzip sprechen und noch ein wenig Matroschkaphilosophie einbauen. Das wäre alles nicht falsch. In Russland werden abgewrackte Häuser werden mit Planen überzogen, auf denen ein renoviertes Haus zu sehen ist. Die Hauptstraßen werden gesäubert, die Nebenstraßen sind dreckig. Fußgängerbereiche werden von Schnee befreit, aber der dann gleich um die nächste Ecke geschüttet, wo er irgendeinen Durchgang verstopft. Wenn Menschen eingeschneit in einem Stau auf der Autobahn erfrieren (ja, genau), dann fahren plötzlich Dutzende Schneeschieber durch Moskaus Innenstadt.

Das gilt aber nicht für die Politik Putins. Bei der muss man nur sehen wollen, was ist. Und zwar nicht nur, was gerade ist, sondern was auch in der Vergangenheit war und wie er sich entwickelt hat.

  • Die anderen sind schuld.
  • Restauration ist wichtig.
  • Der Waffengang ist ein normales Mittel.
  • Russland ist zum Ausplündern da.
  • Der Westen ist zum Waschen des russischen Geldes da.
  • Loyalität wird belohnt.
  • Widerspruch wird bestraft.
  • Staatsbürger die einander helfen, sind der Konspiration gegen den Staat verdächtig.
  • Russische Dissidenten können weltweit umgebracht werden.
  • Die Historie wird im Kreml geschrieben.
  • Der Westen wird über die russische Wahrheit belehrt.
  • Frozen conflicts sind ein Mittel der Wahl.
  • Söldnertruppen sind ein Teil der russischen Außenpolitik.
  • Grenzen werden permanent überschritten. Sei es das Verschieben der Grenzen in der Ostukraine, das Entführen nicht genehmer Personen aus anderen Staatsgebieten oder die Annexion ganzer Gebiete.
  • Wahlen in anderen Staaten sind manipulierbar.

Mit diesem (Ausschnitt an bisherigen) Taten im Gepäck, ist es für Putin ein Leichtes, bei seinem Handeln auf strategische Ambiguität zu setzen. Nichts ist wahr, alles ist möglich und man muss es ihm zutrauen. Er handelt aus einer Position der Stärke heraus.

Geradezu lächerlich wirkt dagegen Olaf Scholz, der zu keiner klaren Ansage fähig scheint und glaubt, dies als strategische Ambiguität auszulegen. Es spricht dann der US-Präsident, und so wurde es am Ende doch wieder alles gesagt. Da man Scholz gleichzeitig aber keine Banden knüpfen sieht, verliert Deutschland momentan sehr viel an internationalem Ansehen. Es duckt sich weg und dieses Wegducken kann nicht durch die mit klareren Worten ausgestattete deutsche Außenministerin aufgefangen werden.

Putin hat die Tür aber längst zugeschlagen. Unter ihm wird es keine Veränderungen mehr geben und entsprechend sollte man ihn behandeln. Das Aufhalten der Türen muss sich an die nachfolgenden Generationen richten. Auch darüber habe ich mit Alexander Clarkson in der letzten Folge der Foreign Times gesprochen.

Update vom. 24.02.2022: Schreibfehler korrigiert.

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